- Einleitung
Ausgehend von Michel Foucaults Vortrag vor der société française aus dem Jahr 1978 soll ein Blick auf Kants berühmten Zeitungsartikel „Was ist Aufklärung?“ aus dem Jahr 1784 geworfen werden. Es geht also in gewisser Weise um einen Rückblick, der einigen Perspektiven folgt, die Foucault in dem Vortag entwickelt, der 1990 von der société française unter dem Titel „Qu´est-ce que la critique?“ veröffentlicht wurde. Bei diesem Text handelt es sich um eine Transkription, die von Foucault weder redigiert noch autorisiert worden ist.
Eine Analyse der Darstellung der Begriffe Kritik und Aufklärung, die Foucault uns bietet, kann daher an diesen Text nicht die gleichen Maßstäbe anlegen wie an einen autorisierten Text. Gleichwohl muß auch der Ansatz Foucaults, den wir anhand seines Vortrags nur schlaglichtartig nachvollziehen können, kritisch betrachtet werden. Im Kapitel „Foucaults ‚Was ist Kritik?‘“[1] soll zunächst ein Schwerpunkt auf die methodischen Widersprüchlichkeiten gelegt werden, mit denen Foucault bewußt operiert. Darüber hinaus muß natürlich Foucaults Darstellung der kantischen Begriffe Kritik und Aufklärung kritisch betrachtet werden. Erst danach soll im Kapitel „Kants ‚Was ist Aufklärung?‘“[2] dessen Aufsatz diskutiert werden, vor allem die merkwürdig anmutende Unterscheidung in einen öffentlichen und privaten Gebrauch der Vernunft. Im Kapitel „Foucault versus Kant“ sollen die Ergebnisse der Erörterung resümiert und das Verhältnis von Subjekt, Kritik und Aufklärung nochmals beleuchtet werden.
- Foucaults Vortrag zum Thema ‚Was ist Kritik?‘
Im Zentrum der vielfältigen Antworten Foucaults auf die Frage „Was ist Kritik?“ steht Kant. Ausgehend von Kants Beispielen für die „Unmündigkeit, aus der die Aufklärung die Menschen ausgehen lassen sollte, die Bereiche der Religion, des Rechts und der Erkenntnis“ (WiK, S. 16), konstruiert Foucault idealtypisch und dennoch gleichsam genealogisch eine Situation, die als eine Geburtsstunde dessen gelten könne, was Foucault unter einer „kritischen Haltung“ (WiK, S. 12) versteht, die „sich mit der Tugend verschwägert“ (WiK, S. 9). Als Ausgangspunkt wählt Foucault exemplarisch die christliche Kirche des 15. und 16. Jahrhunderts, da „es vom 15. Jahrhundert an, bereits vor der Reformation, eine wirkliche Explosion der Menschenregierungskunst gegeben“ (WiK, S. 10) habe. Diese Menschenregierungskunst hat sich nach Foucault über den religiösen Bereich hinaus auch „in der zivilen Gesellschaft ausgebreitet“ (WiK, S. 10). Die christliche Kirche habe
„die einzigartige und der antiken Kultur wohl gänzlich fremde Idee entwickelt, daß jedes Individuum unabhängig von seinem Alter, von seiner Stellung sein ganzes Leben hindurch und bis ins Detail seiner Aktionen hinein regiert werden müsse und sich regieren lassen müsse: daß es sich zu seinem Heil lenken lassen müsse und zwar von jemanden, mit dem es in einem umfassenden und zugleich peniblen Gehorsamsverhältnis verbunden sei. Und diese Operation der Lenkung zum Heil in einem Gehorsamsverhältnis mit jemanden muß sich in einem dreifachen Verhältnis zur Wahrheit vollziehen: Wahrheit verstanden als Dogma; Wahrheit auch insofern, als die Lenkung eine spezielle und individualisierende Erkennung der Individuen impliziert; und schließlich auch insofern, als diese Lenkung sich als eine reflektierte Technik entpuppt, die allgemeinen Regeln, besondere Erkenntnisse, Vorschriften und Methoden für Untersuchungen, Geständnisse, Gespräche usw. enthält.“ (WiK, S. 9f).
Foucault glaubt, daß die Frage „Wie regiert man?“ eine „der grundlegenden Fragen des 15. und 16. Jahrhunderts gewesen ist.“ (WiK, S. 11) Gegen „die Vervielfältigung aller Regierungskünste“ (WiK, S. 12) im religiösen, aber auch im weltlichen Bereich habe sich die kritische Haltung formiert, die als
„Gegenstück zu den Regierungskünsten, gleichzeitig ihre Partnerin und ihre Widersacherin, als Weise ihnen zu mißtrauen, sie abzulehnen, sie zu begrenzen und sie auf ihr Maß zurückzuführen, sie zu transformieren, ihnen zu entwischen oder sie immerhin zu verschieben zu suchen, als Posten zu ihrer Hinhaltung und doch auch als Linie der Entfaltung der Regierungskünste … in Europa“ (WiK, S. 12)
entstanden sei. Der Begriff der Kritik bezeichne „polemisch-professionelle Aktivitäten“ (WiK, S. 8), in denen „eine Denkungsart“ (WiK, S. 12) zum Tragen komme, die Foucault als eine erste Definition der Kritik vorschlägt: „die Kunst nicht dermaßen regiert zu werden.“ (WiK, S. 12) Diese Definition erlaube, „historische Anhaltspunkte“ (WiK, S. 12) zu geben, durch die sich die kritische Haltung fixieren lasse: erstens „lief der Wille, nicht dermaßen regiert zu werden“ (WiK, S. 13) in einer Epoche, „in der die Menschenregierung“ (WiK, S. 12) an die „Autorität der Kirche, an das Lehramt der Heiligen Schrift gebunden war“ (WiK, S. 13) über eine Rückkehr zur Heiligen Schrift und die Verweigerung des kirchlichen Lehramts. Diese „Kritik ist historisch gesehen biblisch“ (WiK, S. 13). Sie habe auf eine neue Befragung der Wahrheit der Schrift gezielt, aber auch auf die einfache Frage: „Ist die Schrift wahr?“ (WiK, S. 13) Zweitens habe sich die kritische Haltung gegenüber Gesetzen formiert, die
„eine wesenhafte Unrechtmäßigkeit bergen. Unter diesem Gesichtspunkt heißt also Kritik: der Regierung und dem von ihr verlangten Gehorsam universale und unverjährbare Rechte entgegensetzten, denen sich jedwede Regierung, handle es sich um den Monarchen, um das Gericht, um den Erzieher, um den Familienvater, unterwerfen muß.“ (WiK, S. 13f).
Diese „Kritik (ist, E.P) wesentlich juridisch.“ (WiK, S. 14) Sie frage: „Welches sind die Grenzen des Rechts zu regieren?“ (WiK, S. 14) Drittens bedeute die kritische Haltung, etwas nicht unhinterfragt als wahr anzunehmen, „was eine Autorität als wahr ansagt“ (WiK, S. 14). Diese „Kritik (geht, E.P.) vom Problem der Gewißheit gegenüber der Autorität aus.“ (WiK, S. 14) Ihr gehe es darum, nur dann etwas anzunehmen, „wenn man die Gründe es anzunehmen selber für gut befindet.“ (WiK, S. 14)
Diese Bestimmungen der Kritik bzw. der kritischen Haltung zeigen, wie Foucault selbst feststellt, in welcher Nähe zu Kants Definition der Aufklärung sie sich befinden. Foucault verwendet den Begriff Kritik und nicht den der Aufklärung, weil er glaubt, daß Kant in seinem Aufsatz „Was ist Aufklärung?“ „sein kritisches Unternehmen situiert“ (WiK, S. 19). Foucault weist darauf hin, daß das, was Kant unter Aufklärung versteht, von Kants Begriff der Kritik im transzendentalphilosophischen Sinn zu unterscheiden ist. Dieser Begriff von Kritik, von dem wir vorläufig sagen können, daß er mit dem Foucaultschen Begriff der Kritik nichts zu tun hat, wird nach Foucault sagen:
„um unsere Freiheit geht es weniger in dem, was wir mit mehr oder weniger Mut unternehmen als vielmehr in der Idee, die wir uns von unserer Erkenntnis und ihren Grenzen machen“ (WiK, S. 17).
„Kants kritisches Projekt“, das „in seiner philosophischen Strenge zu bestimmen“ (WiK, S. 17) sich Foucault nicht anmaßen will, bestand vor dem Aufsatz „Was ist Aufklärung?“ nur aus dem 1781 erschienenen Werk „Kritik der reinen Vernunft“[3]. Eine maßgebliche Definition des Begriffs der Kritik lautet dort:
„Die Philosophie der reinen Vernunft ist nun entweder Propädeutik (Vorübung), welche das Vermögen der Vernunft in Ansehung aller reinen Erkenntnis a priori untersucht, und heißt Kritik, oder zweitens das System der reinen Vernunft (Wissenschaft), die ganze (wahre sowohl als scheinbare) philosophische Erkenntnis aus reiner Vernunft im systematischen Zusammenhänge, und heißt Metaphysik“ (KdrV, S. 846f).
Bei Kant handelt es sich also um eine Kritik der reinen Vernunft, um eine Vorübung, die das Vermögen Vernunft in Hinblick auf eine reine, nicht empirische Erkenntnis a priori untersucht. Kants Kritik zielt auf die Bedingungen der Möglichkeit von Erkenntnis. Wie Foucault richtig feststellt, heißt das auch, daß die Kritik im Sinne Kants auf die Erörterung der „Grenzen der Erkenntnis“ (WiK, S. 18) zielt. Foucault behauptet:
„Es ließe sich leicht zeigen, daß für Kant selber jener wahre Mut zu wissen, den die Aufklärung errufen wollte, daß eben jener Mut zu wissen darin besteht, die Grenzen der Erkenntnis zu erkennen“ (WiK, S. 18).
Bei Kant ist allerdings nicht die Rede von einem Mut zu wissen, sondern es heißt: „Habe Mut, dich deines eigenen Verstandes zu bedienen!“ (WiA, S. 9) Diese Aufforderung hat eine andere Qualität als Foucault suggeriert. Foucault unterstellt desweiteren, daß Kant „jeder gegenwärtigen und künftigen Aufklärung“ „die Erkenntnis der Erkenntnis aufbürdet.“ (WiK, S. 18) Foucault gibt nicht direkt an, aus welchem Text Kants er diese Erkenntnis bezieht. Unmittelbar zuvor spricht er über den Aufsatz „Was ist Aufklärung?“ Im nächsten Kapitel haben wir die Gelegenheit, die Unterstellung am Text zu überprüfen.
Die strategischen Gründe, die Foucault dazu bewegen, Kants Aufsatz zu verzerren, gibt er unmittelbar im Anschluß zu erkennen. Foucault stellt fest: „Die Geschichte des 19. Jahrhunderts hat der Unternehmung der Kritik“, gemeint ist das kritische Projekt Kants, „eine stärkeres Weiterleben erschafft als der Aufklärung selbst.“ (WiK, S. 18) Foucault spricht von einer geschichtlichen Entfaltung der kantischen Kritik. Er nennt drei Linien, auf denen sich diese Entfaltung vollzogen habe, und die als Fortsetzung des kantischen Projekts anzusehen seien: erstens, die positivistische Wissenschaft, „die ein vollständiges Vertrauen zu sich hatte“ und „gegenüber jedem ihrer Erkenntnisse sorgfältig kritisch war“ (WiK, S. 19), zweitens, die Entwicklung „eines staatlichen Systems, das sich als grundlegende Vernunft oder Rationalisierung der Geschichte ausgab“ (WiK, S. 19) und drittens, eine Staatswissenschaft, die „an der Nahtstelle zwischen diesem wissenschaftlichen Positivismus und dieser Staatenentwicklung“ (WiK, S. 19) entstanden sei. Der Positivismus sei für „die Entfaltung der Produktivkräfte immer bestimmender“ (WiK, S. 19) geworden und die „Staatsgewalten“ haben sich nach Foucault „in immer raffinierter werdenden Techniken“ (WiK, S. 19) vollzogen. Die folgende Bemerkung Foucaults zeigt uns, daß er mehr oder weniger direkt Kant für die Entgleisungen einer instrumentellen, rein zweckorientierten Rationalität verantwortlich macht:
„Die Frage von 1784 ‚Was ist Aufklärung?‘, oder vielmehr die Art und Weise, in der Kant mit seiner Stellungnahme sein kritisches Unternehmen situiert, … die Problematisierung der Beziehungen zwischen Aufklärung und Kritik“ nehme die „Form eines … Verdachts an: für welche Machtsteigerungen, für welche Regierungsentfaltung, die umso unabwendbarer sind als sie sich auf Vernunft berufen, ist die Vernunft selbst historisch verantwortlich?“ (WiK, S. 20)
Foucault weist allerdings weder an Kants Text nach, wie dieser „sein kritisches Unternehmen situiert“ (WiK, S. 19), noch geht er auf die Art und Weise ein, in der dieser Aufsatz gehalten ist. Es heißt lediglich, Kants Definition der Aufklärung sei „nicht einfach eine historische und spekulative Definition, sondern etwas was man beinahe eine Predigt nennen könnte“ (WiK, S. 16).
Da es in Frankreich nicht in dem Maße wie in Deutschland eine „Zugehörigkeit der Universitäten zur Wissenschaft und zu den administrativen und staatlichen Strukturen“ (WiK, S. 20) gegeben habe, soll sich nach Foucault in Frankreich erst durch die Phänomenologie „in einer sonderbaren Abkürzung das Problem zwischen ratio und Macht wiedereingestellt“ (WiK, S. 23) haben. Der Phänomenologie sei die Einsicht zu verdanken, daß „es Sinn nur dank den Zwangswirkungen von Strukturen gibt“ (WiK, S. 23).
Foucault stellt Kants Beantwortung der Frage „Was ist Aufklärung?“ eigentlich gar nicht dar. Er nimmt vielmehr ein Mitverantwortung Kants für das an, was die „Umkehrfrage“ zur Aufklärung thematisiert: „Wie kommt es, daß die Rationalisierung zur Raserei der Macht führt?“ (WiK, S. 24) Foucault stellt selbst fest, daß er mit der Behandlung dieses Problems „in eine Position der Brüderlichkeit gegenüber der Frankfurter Schule“ (WiK, S. 26) gerät. Foucault erweckt nichtsdestotrotz den Anschein, als wolle er diese Bruderschaft zu Adorno, Horkheimer, aber auch Habermas kündigen. Dies geschieht indirekt durch den „allgemeinen Rahmen“ einer Forschung, den Foucault vorstellt, und die „ich die historisch-philosophische nenne.“ (WiK, S. 29) Diese Forschung habe „weder mit der Philosophie der Geschichte noch mit der Geschichte der Philosophie etwas zu tun“ (WiK, S. 26). Angesicht der von Foucault bei Kant erkannten „Auseinanderschiebung von Aufklärung und Kritik“, durch die die Frage der Aufklärung „im wesentlichen als ein Problem der Erkenntnis“ (WiK, S. 29) eingeführt worden sei, möchte er nicht, wie Dilthey und Habermas, eine „Analyse-Prozedur“ (WiK, S. 30) befolgen, die in kantischer Tradition auf „eine Legitimitätsprüfung der geschichtlichen Erkenntnisweisen“ (WiK, S. 30) ziele. Foucault möchte nicht über das Problem der Erkenntnis, sondern „über das Problem der Macht in die Frage der Aufklärung einsteigen“ (WiK, S. 30).
Foucault charakterisiert seine historisch-philosophische Analyse durch drei in ihr simultan wirksame Dimensionen (vgl. WiK, S. 30): Genealogie, Archäologie und Strategie (vgl. WiK, S. 39). Genealogie deckt die historische, Archäologie und Strategie die philosophische Komponente seiner Analyse ab.
Bevor wir uns nun auf Foucaults wenig detaillierte Ausführungen zu diesen drei Dimensionen einlassen, ist es angezeigt, zunächst die Skizze des allgemeinen Rahmens der historisch-philosophischen Forschung nachzuvollziehen, die schon Aufschluß gibt über die historischen und philosophischen Elemente des Ansatzes von Foucault. Es gehe darum,
„sich seine eigene Geschichte zu machen: gleichsam fiktional die Geschichte zu fabrizieren, die von der Frage nach den Beziehungen zwischen den Rationalitätsstrukturen des wahren Diskurses und den daran geknüpften Unterwerfungsmechanismen durchzogen ist – welche Frage die den Historikern vertrauten Gegenstände zum Problem des Subjekts und der Wahrheit hin verschiebt“ (WiK, S. 30).
Interessant ist hier das Zugeständnis, daß es um die Fabrikation einer eigenen, fiktionalen Geschichte gehe. Diese Geschichte, die wir schon als ein genealogisches Moment der Forschung Foucaults begreifen können, soll durch „den Rekurs auf den historischen Gehalt“ (WiK, S. 27) die „philosophische Frage“ „entsubjektivieren“ (WiK, S. 27). Wie dieser Rekurs zu denken ist, wird Foucault noch ausführen. Mit „entsubjektivieren“ scheint er, ein Abblenden der eigenen existentiellen Betroffenheit „von der Frage nach den Beziehungen zwischen den Rationalitätsstrukturen des wahren Diskurses und den daran geknüpften Unterwerfungsmechanismen“ (WiK, S. 26) zu meinen. Es soll offensichtlich zunächst nicht um die genuin philosophische Frage gehen,
„was bin denn nun eigentlich ich, der zu dieser Menschheit gehöre, …, zu diesem Augenblick von Menschheit, der der Macht der Wahrheit im allgemeinen und der Wahrheit im besonderen unterworfen ist?“ (WiK, S. 27)
Diese Entsubjektivierung soll „durch die Befragung der Machteffekte“ (WiK, S. 27) geschehen, mit denen die „historischen Inhalte, die man bearbeitet und an die man gebunden ist, weil sie wahr sind oder als wahr gelten“ (WiK, S. 27) ausgestattet sein. Die Befragung der Machteffekte der historischen Inhalte soll diese von ihren Machteffekten „losmachen“ (WiK, S. 27). Die Entsubjektivierung, die Foucault anstrebt, meint nicht eine Verdrängung des „Problem(s) des Subjekts und der Wahrheit …, um das sich der Historiker nicht kümmert.“ (WiK, S. 26)
Mit dem Abblenden der eigenen subjektiven Betroffenheit scheint schon ein phänomenologisches Moment in der historisch-philosophischen Forschung gegeben zu sein, nämlich das Absehen von der eigenen Subjektivität. Dieses Moment begegnet uns bei Foucault als Archäologie. Damit wird aber die Simultanität der drei Dimensionen der Analyse Foucaults fragwürdig. Das historische Element der Analyse betont gerade mit dem Zugeständnis der „genealogischen“ Fabrikation einer eigenen, fiktiven Geschichte die Subjektivität, die in der Archäologie abgeblendet wird.
Das historische Moment der „historisch-philosophischen Praktik“ (WiK, S. 28) spezifiziert Foucault auch, indem er einen „privilegierten Bezug zu einer empirisch bestimmbaren Epoche“ (WiK, S. 28) postuliert, nämlich zur „Aufklärung in dem weiten Sinn, in dem Kant und Weber sich auf sie bezogen“, „als Formierungsmoment der modernen Menschheit“ (WiK, S. 28). In diesem Sinne sei Aufklärung „eine Periode ohne feste Datierung und mit vielfältigen Eingängen“ (WiK, S. 28), woraus sich für die historisch-philosophische Forschung „eine faktische Privilegierung dieser Periode“ (WiK, S. 28) ergebe:
„denn da entstehen direkt und an der Oberfläche sichtbarer Transformationen die Beziehungen zwischen Macht, Wahrheit und Subjekt, die es zu analysieren gilt.“ (WiK, S. 28)
Wir können festhalten, daß die historisch-philosophische Praktik einen privilegierten Bezug zur Aufklärung haben soll, das sie sich für die Funktion und Transformation von Machtmechanismen interessiert, die sich in der Aufklärung als Epoche der Formierung der modernen Menschheit exemplarisch nachvollziehen lassen sollen, was die Aufklärung faktisch privilegiere. Foucault schwankt zwischen dem Begriff der Epoche und dem der Periode „ohne feste Datierung“ (WiK, S. 28) und läßt die Frage offen, ob diese Epoche bzw. Periode noch andauert. Das wäre für sich genommen nicht weiter dramatisch. Foucault behauptet aber, daß „Kant die gesamte vorangegangene kritische Bewegung als Aufklärung bezeichnet“ (WiK, S. 17) und daß das 19. Jahrhundert dem Projekt der kantischen Kritik „ein stärkeres Weiterleben verschafft als der Aufklärung selbst.“ (WiK, S. 18) Daher muß es uns überraschen, daß Foucault plötzlich zugesteht, daß Kant Aufklärung „in dem weiten Sinne“ verstehe als Epoche „der modernen Menschheit“ (WiK, S. 28), was zutreffend ist. In diesem Zusammenhang ist nicht nur diese plötzliche Treue gegenüber Kant überraschend, sondern auch daß Foucault einen Primat, eine Privilegierung der Aufklärung behauptet. Wolle man „das Problem Was ist Aufklärung? gründlich aufwerfen …, stößt man auf das historische Schema der Modernität.“ (WiK, S. 28) Wir können der folgenden Frage Foucaults entnehmen, daß er sich sehr wohl der Problematik einer Fabrikation einer eigenen, subjektiven Geschichte bewußt ist. Es gehe darum zu sehen,
„unter welchen Bedingungen, um dem Preis welcher Modifizierungen oder Generalisierungen man diese Frage der Aufklärung, diese Frage der Beziehungen der Mächte, der Wahrheit und des Subjekts auf irgendeinen Moment der Geschichte anwenden kann.“ (WiK, S. 29)
Die Motivation der Anwendung auf einen Moment der Geschichte ist noch zu befragen und vor allem in Beziehung zu setzen zur Entsubjektivierung, die Foucault postuliert.
Wenden wir uns nun aber der Frage zu, wie Foucault Archäologie, Genealogie und Strategie als „drei simultane Dimensionen“ (WiK, S. 39) seiner historisch-philosophischen Analyse entwickelt. Es wird sich zeigen, daß die Dimension der Archäologie dominiert und wir in ihr nur bedingt Spuren eines genealogischen Verfahrens entdecken können, und daß es nur bestimmte Aspekte der Archäologie sind, denen ein strategischer Zug zu eigen ist.
Foucault legt fest, daß seine Analyse „nicht als Legitimitätsprüfung vorgehen“ soll, „sondern als Ereignishaftigkeitsprüfung oder Ereignishaftmachung.“ (WiK, S. 30) Die Verwendung des Begriffs Ereignis scheint im Zusammenhang mit dem zu stehen, was Foucault „entsubjektivieren“ nannte. Ein Ereignis ereignet sich; die Frage nach dem Subjekt ist zunächst nicht relevant. Wenn wir unter „entsubjektiveren“ das Abblenden einer eigenen existentiellen Betroffenheit von dem Problem Macht, Wissen und Subjekt verstehen, dann ist es stilistisch konsequent, daß Foucault das anonyme „Man“ anstatt des „Ichs“ verwendet: „Man möchte nicht wissen“, „man möchte wissen“ (WiK, S. 31). Aber was legt der Archäologe frei, der zuvor seine eigene Betroffenheit aber nicht etwa seine eigene Subjektivität ablegen will? Zu welchen tiefer gelegenen Schichten stößt er vor? Wodurch weiß er, das er ein Fundament erreicht hat, unter dem sich nicht eine noch tiefere Schicht befindet? Und vor allem: Auf was stößt er? Diese Fragen stellen sich gerade in Hinblick auf den Umstand, daß der Archäologe sich ja nur eine eigene, fiktive Geschichte machen will. Der Archäologe Foucault stößt nicht auf eine Arche, d.h. einen Ursprung. Der Genealoge Foucault ermittelt nicht einen Vater oder eine Mutter, die als Ursachen einer Nachkommenschaft gelten können. Da die historisch-philosophische Analyse sich nicht auf eine Legitimitätsprüfung verlassen soll, darf sie sich nicht auf einen Ursprung verlassen, der immer zu einer Legitimierung herangezogen werden kann:
„Kein Rekurs auf eine Grundlegung … das ist einer der wichtigsten und anfechtbarsten Punkte dieses historisch-philosophischen Vorgehens.“ (WiK, S. 38)
So zeigt sich, daß das philosophische Moment das historische vollständig dominiert. Es ist nicht nur eine unhintergehbare Subjektivität, die die eigene Geschichte, die Foucault erzählen will, zu einer fiktiven macht, sondern auch der Umstand, daß die Aufklärung als Epoche „vielfältige() Eingänge()“ (WiK, S. 28) hat. Foucaults Erzählung seiner eigenen, fiktiven Geschichte soll nicht von einem Ursprung berichten, entdeckt aber gleichwohl Verwandschaftsbeziehungen, Transformationen und ein „Kausalnetz, das zugleich komplex und beschränkt ist“ (WiK, S. 37). Die „Genealogie geht nicht als Schließung vor“ (WiK, S. 38); sie nimmt nicht eine „Zurückführung einer vielfältigen Nachkommenschaft auf eine einzige gewichtige Ursache“ (WiK, S. 37) vor. Sie hat es mit einem Kausalnetz zu tun, mit „Beziehungen, die sich immer wieder voneinander loshaken“ (WiK, S. 38). Die historisch-philosophische Praktik müsse daher eine „strategische“ „Form von Analysen“ entwickeln, um nicht eine „immer währende Beweglichkeit“, eine „Verstrickung zwischen Prozeßerhaltung und Prozeßumformung“ (WiK, S. 39) auszuschließen.
Auf die Zeitlichkeit welcher Phänomene will Foucault dieses Sammelsurium nur schemenhaft angedeuteter Methoden loslassen? Auf die Aufklärung als Periode, deren Endpunkt offenbleibt?
Foucaults Interesse gilt einem „Nexus von Macht-Wissen“ (WiK, S. 33) im Verhältnis zum Subjekt. Es gilt den „Verschränkungen zwischen Zwangsmechanismen und Erkenntniselementen“ (WiK, S. 31), den „Verweisungen und Stützungen“, die „sich zwischen ihnen entwickeln“ (WiK, S. 31). Es gilt der Frage,
„wieso ein bestimmtes Erkenntniselement – sei es wahr oder wahrscheinlich oder ungewiß oder falsch – Machtwirkungen hervorbringt und wieso ein bestimmtes Zwangsverfahren rationale, kalkulierte, technisch effiziente Formen und Rechtfertigungen annimmt.“ (WiK, S. 31)
Der Weg gehe dabei „über eine Analyse des Nexus von Macht-Wissen“, die „die Tatsache seines Akzeptiertseins“ (WiK, S. 34) in einer spezifischen Situation verständlich mache. Foucault will diesen Nexus „in seiner Positivität erfassen“ (WiK, S. 34). Er möchte die „Akzeptabilitätsbedingungen eines Systems herausarbeiten“ und die „Bruchlinien seines Auftauchens verfolgen“ (WiK, S. 35). Foucault weist den Begriffen Macht und Wissen „nur eine methodologische Funktion“ (WiK, S. 32) zu. Mit ihrer Hilfe soll ein relevanter „Elemententyp fixiert werden“ (WiK, S. 32). Die Begriffe Macht und Wissen sollen „hinsichtlich ihrer Referenzgebiete“ „eine Neutralisierung in Sachen Legitimität und eine Beleuchtung ihrer … tatsächlichen Akzeptanz“ (WiK, S. 32) leisten.
Im Widerspruch zu diesem Konzept steht, daß Foucault gegen Ende seines Vortags die Motivation seines Interesses an Macht-Wissen zu erkennen gibt, wodurch ein legitimatorischer Effekt auftrifft. Er verstößt damit zugleich gegen den selbstgesetzten Vorsatz, die historisch-philosophische Frage zu „entsubjektivieren“ (WiK, S. 26). Foucault stellt fest, daß es sich darum handle, Macht
„stets als eine Beziehung in einem Feld von Interaktionen zu betrachten, sie in einer unlöslichen Beziehung zu Wissensformen zu sehen und sie immer so zu denken, daß man sie in einem Möglichkeitsfeld und folglich in einem Feld der Umkehrbarkeit, der möglichen Umkehrung sieht.“ (WiK, S. 40)
Er fragt sich dann, wie die „Zwangswirkungen“, die ein Nexus von Macht-Wissen ausüben soll, „aufgrund der Entscheidung eben nicht regiert zu werden, umgekehrt oder entknotet werden“ (WiK, S. 40f) können. Foucault macht sich damit die kritische Haltung zu eigen, die er in seiner eigenen, fiktiven Geschichte als Reaktion gegen die Autorität der christlichen Kirche im 15. und 16. Jahrhundert idealtypisch konstruierte. Foucault hatte bemerkt, daß seine Definition der kritischen Haltung „nicht weit entfernt ist von jener Definition, die Kant gegeben hat: allerdings nicht von der Kritik sondern von der Aufklärung.“ (WiK, S. 15) Und er hatte Kant mitverantwortlich gemacht dafür, daß die kritische Haltung der Aufklärung in ein Projekt der Kritik umgekippt sei. Am Ende seines Vortrags fragt er sich, ob man nicht versuchen könne, „diesen Weg wieder zu durchlaufen – aber in der anderen Richtung?“ (WiK, S. 41) Das würde heißen, ausgehend von einem Projekt der Kritik, das auf die Bedingungen der Möglichkeit der Erkenntnis und deren Grenzen zielt, zurückgehen zu einer aufklärerischen kritischen Haltung. Foucault sagt uns, daß er nicht gewagt habe, seinem Vortrag den Titel „Was ist Aufklärung?“ zu geben. Er hat uns mitgeteilt, daß die Aufklärung wesentlich auch durch das Projekt der kantischen Kritik diskreditiert wurde. Gleichwohl spricht Foucault in seinem Vortrag als Aufklärer, macht sich die kritische Haltung zu eigen, die Kant in seinem Aufsatz definiert. Der Umstand, daß sich Foucault in gewisser Weise gegen Kant wendet, mag ihn bewogen haben, Kant nicht als Quelle der Inspiration für seine fiktive, genealogische Geschichte der kritischen Haltung zu würdigen. Foucault untertreibt, wenn er nur eine Nähe zu Kant feststellt. Die Dominanz Kants zeigt sich gegen Ende des Vortrags erneut, wenn Foucault die Umkehrung der Verschiebung „der Frage der Aufklärung in die Kritik“ (WiK, S. 41) postuliert. Er selbst beschreitet in seinem Vortag diesen Weg nicht. Er stellt nicht eine Version eines erkenntniskritischen Projekts vor, das sich mit dem Kants messen könnte, und von dem aus ein Weg zurück zur kritischen Haltung durchlaufen werden könnte. Daran ändert die rückwärts gewendete Bewegungsrichtung der Archäologie und Genealogie nichts. Foucault stellt lediglich eine „Umkehrfrage zum Problem der Aufklärung: Wie kommt es, daß die Rationalisierung zur Raserei der Macht führt?“ (WiK, S. 24) Es handelt sich hierbei strenggenommen nicht um eine Umkehrfrage zur Aufklärung, sondern um eine als Frage gekleidete Problematisierung der Auswirkungen, die das kantische Projekt der Kritik gehabt haben soll. Foucault stellt dabei weniger die Frage nach den Grenzen der Erkenntnis und damit auch seiner Erkenntnis, sondern er spricht hier als Aufklärer, der eine Verfallsgeschichte der Aufklärung, die eine Verfallsgeschichte der Vernunft sein soll, kritisiert.
Spricht Foucault wirklich als Aufklärer? Oder wird sein Vortrag von seinem Interesse an Macht-Wissen dominiert? Sind die Behauptungen über Kants Aufsatz „Was ist Aufklärung?“ zutreffend? Kann Foucault zu recht behaupten, daß Kant „jeder gegenwärtigen und künftigen Aufklärung“ „die Erkenntnis der Erkenntnis“ (WiK, S. 18) als Vorübung aufbürdet?
Foucault kann die Rolle des Aufklärers nur um einen hohen Preis einnehmen. Der Preis, den er scheinbar bereitwillig zahlt, um gegenüber Kant eine kritische Haltung einnehmen zu können, ist hoch. Er verdeckt Kant als Quelle, von der er sich abstößt, er läßt sich nicht auf Kants Aufsatz ein. Hätte er das getan, wäre er genötigt gewesen zu offenbaren, wieviel sein Projekt diesem Aufsatz verdankt.
Im folgenden Kapitel gilt es zu prüfen, ob Foucaults Behauptungen über Kant zutreffend sind, und inwieweit sich zeigen läßt, daß Foucault an gewisse Punkte in Kants Aufsatz anknüpft und von ihnen gerade in Hinblick auf eine Analyse des Macht-Wissens inspiriert wird.
- Kants Aufsatz „Was ist Aufklärung?“
In seinem Zeitungsartikel unterscheidet Kant einen öffentlichen und privaten Gebrauch der Vernunft. Legen wir diese Unterscheidung Kants zugrunde, so können wir im Sinne seiner noch zu erörternden Definition sagen, daß er in seinem Artikel seine Vernunft öffentlich gebraucht. Es handelt sich dabei gerade nicht um eine „Predigt“ (WiK, S. 16), wie Foucault feststellt, der damit den appellativen Charakter des Aufsatzes betonen möchte. Die Predigt ist bei Kant gerade ein Beispiel für den privaten Gebrauch der Vernunft (vgl. WiA, S. 12).
Foucault stellt dem Mut, den man nach Kant haben muß, um sich seines „eigenen Verstandes zu bedienen“ (WiA, S. 9), die „Stimme Friedrichs II. kontrapunktisch“ (WiK, S. 17) gegenüber, die Kant selber zitiert: „räsoniert, soviel ihr wollt und worüber ihr wollt; nur gehorcht!“ (WiA, S. 17) Foucault nimmt diese Stimme Friedrichs nicht zum Anlaß, die Unterscheidung in einen öffentlichen und privaten Gebrauch der Vernunft zu analysieren. Er zieht von ihr eine Parallele zu dem Projekt der Kritik, zu dem sich die Aufklärung verschoben habe, und das Kant der Aufklärung als Vorübung aufbürde:
„Im Verhältnis zur Aufklärung ist die Kritik für Kant das, was er zum Wissen sagt: Weißt du auch wie weit du wissen kannst? Räsoniere so viel du willst – aber weißt du denn, bis wohin du ohne Gefahr räsonieren kannst?“ (WiK, S. 17)
Das kritische Projekt Kants zeige, daß „man sich nicht von einem anderen ‚Gehorcht!‘ sagen lassen“ (WiK, S. 17) müsse. Foucault gibt zu verstehen, daß bei Kant die Stimme der Vernunft dieses „Gehorcht!“ sagt. Die Freiheit des Subjekts besteht bei Kant tatsächlich nur durch eine Übereinstimmung mit der Vernunft. Foucault zeigt dann aber gerade nicht, was
„sich leicht zeigen (ließe, E.P.), daß für Kant selber jener wahre Mut zu wissen, den die Aufklärung errufen wollte, daß eben jener Mut zum Wissen darin besteht, die Grenzen der Erkenntnis zu erkennen; und es ließe sich leicht zeigen, daß für ihn die Autonomie keineswegs dem Gehorsam gegenüber den Souveränen entgegensteht.“ (WiK, S. 18)
Foucault konfrontiert uns hier mit einer Ansammlung von Verschiebungen und Entstellungen, die sich nicht durch eine Lektüre des Aufsatzes „Was ist Aufklärung?“ legitimieren lassen. In ihm spricht Kant nicht von einem Mut zum Wissen, der darin besteht, die Grenzen der Erkenntnis zu erkennen. Für Kant lautet der Wahlspruch der Aufklärung: „Habe Mut, dich deines eigenen Verstandes zu bedienen!“[4] (WiA, S. 9) Für Kant bedeutet das, „Faulheit und Feigheit“ (WiA, S. 9) zu überwinden, frei „von fremder Leitung“ (WiA, S. 9) sich „selbst zu bemühen“ (WiA, S. 9), selbst „zu denken“ (WiA, S. 9), eigene Schritte zu tun (vgl. WiA, S. 9). Kant sagt, die Gefahr, die uns droht, wenn wir dies versuchen, ist „so groß nicht, denn sie (die Menschen, E.P.) würden durch einigemal Fallen wohl endlich gehen lernen“ (WiA, S. 9f). Gleichwohl sei es
„für jeden einzelnen Menschen schwer, sich aus der ihm beinahe zur Natur gewordenen Unmündigkeit herauszuarbeiten. Er hat sie sogar liebgewonnen und ist vorderhand unfähig, sich seines eigenen Verstandes zu bedienen, weil man ihn niemals den Versuch davon machen ließ.“ (WiA, S. 10)
Kant läßt darauf einen interessanten Satz folgen:
„Satzungen und Formeln, diese mechanischen Werkzeuge eines vernünftigen Gebrauchs oder vielmehr Mißbrauchs seiner Naturgaben, sind die Fußschellen einer immerwährenden Unmündigkeit.“ (WiA, S. 10)
Selbst der berühmte kategorische Imperativ, der gleichsam als Stimme der Vernunft gedacht werden kann, die uns zur Prüfung der Moralität unserer Handlungen anhält, ist nur ein mechanisches Werkzeug. Es entbindet nicht von der Notwendigkeit, ohne Leitung eines anderen selbst zu denken. Kant relativiert dieses Kriterium, daß es gelte ohne Leitung eines anderen zu denken. Es gebe nur wenige, die die Kraft haben sich allein „aus der Unmündigkeit herauszuentwickeln und dennoch einen sicheren Gang zu tun.“ (WiA, S. 10) Der Wahlspruch der Aufklärung ist also nur ein Motto, das ein erstrebenswertes Ziel vorstellt. Da für Kant gilt, daß es für den einzelnen schwer ist, sich selbst aufzuklären, läßt er diese Einzelnen zu einem „Publikum“ (WiA, S. 10) zusammentreten, dem es eher möglich sein soll, sich selbst aufzuklären (vgl. WiA, S. 10). Aber selbst ein Publikum könne „nur langsam zur Aufklärung gelangen“ (WiA, S. 10). Ein solches Publikum könne sich nur unter gewissen Bedingungen aus einem „gedankenlosen großen Haufen()“ (WiA, S. 11) formieren, über den „eingesetzte() Vormünder()“ (WiA, S. 10) wachen, nämlich nur unter der Bedingung der Freiheit „von seiner Vernunft in allen Stücken öffentlichen Gebrauch“ (WiA, S. 11) machen zu können. Kant beschreibt diese Möglichkeit der Aufklärung des Publikums nicht euphorisch. Das Publikum droht stets ein gedankenloser Haufen zu bleiben. Eine Revolution des Haufens befreie zwar vom „Despotism“ (WiA, S. 10), produziere aber nur „neue Vorurteile“, die „zum Leitbande des gedankenlosen großen Haufens dienen.“ (WiA, S. 11) Kant erscheint eine „wahre Reform der Denkungsart“ (WiA, S. 10f) wünschenswerter und der Aufklärung zuträglicher.
Wie ist nun Foucaults Behauptung zu bewerten, daß für Kant „die Autonomie keineswegs dem Gehorsam gegenüber den Souveränen entgegensteht.“ (WiK, S. 18) Sie ist in dieser Form falsch. Zunächst, es existiert nur ein einziger Souverän, von dem Kant vordergründig emphatisch spricht: „Nur ein einziger Herr in der Welt sagt, räsoniert soviel ihr wollt und worüber ihr wollt, aber gehorcht!“ (WiA, S. 11) Es ist exakt diese Stimme Friedrichs, die sich gegenüber dem Ruf des Geistlichen, des Finanzrats und des Offiziers, „räsoniert nicht!“ (WiA, S. 11), dadurch auszeichnet, daß sie eine Unterscheidung vornimmt, die Kant als eine Unterscheidung in einen öffentlichen und privaten Gebrauch der Vernunft betiteln kann. Die Bereiche, aus denen nach Kant der Ruf „räsoniert nicht!“ ertönt, sind Bereiche, in denen das zum Tragen kommt, was Kant den privaten Gebrauch der Vernunft nennt (vgl. WiA, S. 11). Wir würden sagen, daß es sich bei diesen Bereichen um öffentliche Bereiche handelt, in denen eine instrumentelle bzw. zweckorientierte Rationalität wirksam ist. Es handelt sich vor allem um den ganzen Bereich der Exekutive, das Erziehungswesen, das Beamtentum, aber auch den religösen Bereich. Das, was Kant unter dem privaten Gebrauch der Vernunft versteht, soll wirksam sein in allen Bereichen, in denen eine Person ein Amt oder ein Pflicht übernimmt und damit „einen fremden Auftrag ausrichtet.“ (WiA, S. 13) Die Unterscheidung Kants in einen öffentlichen und privaten Gebrauch der Vernunft läßt sich sachlich nachvollziehen. Allein die Begriffswahl ist etwas befremdend. Viele Bereiche, die Kant als Beispiele für einen privaten Gebrauch der Vernunft angibt, würden wir als öffentliche Bereiche ansehen, etwa eine Predigt vor einer Versammlung von Christen. Sachlich gesehen scheint Kant aber auf verschiedene Rationalitätstypen zu zielen, die einander nicht ausschließen. Dem privaten Gebrauch der Vernunft läßt sich eine Zweckrationalität zuordnen, dem öffentlichen Gebrauch der Vernunft eine verständigungsorientierte Rationalität. Gleichwohl könnte man die Unterscheidung des Gebrauchs der Vernunft hinterfragen. Man könnte sogar mit Kant hinterfragen, ob es sich bei dem privaten Gebrauch der Vernunft überhaupt noch um einen Gebrauch der Vernunft handelt.
Ohne es explizit zu motivieren, hat Kant plötzlich von Vernunft und nicht mehr von Verstand gesprochen. Dieser Übergang und das Verhältnis zwischen Verstand und Vernunft werden von Kant nicht ausgeführt. Wenn wir einen Blick auf die „Kritik der reinen Vernunft“ werfen, fällt auf, daß dort Vernunft ein oberes Erkenntnisvermögen bezeichnet, das die Prinzipien der Erkenntnis a priori liefert (vgl. KdrV, S. 73, S. 382), während Verstand nur als Vermögen der Erkenntnisse (vgl. KdrV, S. 179), als Vermögen, Vorstellungen selbst hervorzubringen (vgl. KdrV, S. 120), als Vermögen zu denken (vgl. KdrV, S. 138) und als Vermögen der Regeln (vgl. KdrV, S. 209) erscheint. Wir können vermuten, daß im privaten Gebrauch der Vernunft höchstens ein Verstand wirksam ist. Aber es könnte auch sein, daß dort nur jene „Satzungen und Formeln“ wirksam sind, die Kant zuvor als „Fußschellen einer immerwährenden Unmündigkeit“ (WiA, S. 9) bezeichnet hat. Der Einzelne, der in einem „fremden Auftrag“ (WiA, S. 13) handelt, wird in seinem Amt zu einem „mechanischen Werkzeuge“ (WiA, S. 10), zu einem „Teil der Maschine“ (WiA, S. 11). Beispielsweise sei ein „Geschäftsträger der Kirche“ (WiA, S. 12) angehalten, „praktischen Nutzen für seine Gemeinde aus Satzungen“ zu ziehen, „die er selbst nicht mit voller Überzeugung unterschreiben würde“ (WiA, S. 12).
Nur wenn zu einem privaten Gebrauch der Vernunft die Freiheit zu einem öffentlichen Gebrauch der Vernunft hinzukommt, kann der private Gebrauch als eine „Einschränkung der Aufklärung betrachtet werden, die „ihr wohl gar beförderlich“ (WiA, S. 11) ist. Bei Kant ist der Gegensatz von Revolution und Reform auf subtile Weise mit der Unterscheidung in einen öffentlichen und privaten Gebrauch der Vernunft gekoppelt. Reformen, die bei Kant für eine Verbesserung der Verhältnisse stehen, lassen sich nur erreichen, wenn alle, die im Gemeinwesen eine Funktion ausüben, sich dort auf einen privaten Gebrauch der Vernunft beschränken, aber allen zugleich das Recht auf einen freien öffentlichen Gebrauch der Vernunft zu gestanden wird. Im öffentlichen Gebrauch der Vernunft erscheint jeder als
„Glied eines ganzen gemeinen Wesens, ja sogar der Weltbürgerschaft …, mithin in der Qualität eines Gelehrten, der sich an ein Publikum im eigentlichen Verstande durch Schriften wendet, …, ohne daß dadurch die Geschäfte leiden, zu denen er zum Teile als passives Glied angesetzt ist.“ (WiA, S. 11f)
Kant wählt nicht ohne Hintergedanken zunächst Beispiele aus dem religiösen Bereich. Das öffentliche Räsonieren der Gemeinschaft der geistlichen Gelehrten über Religionsfragen müsse solange andauern,
„bis die Einsicht in die Beschaffenheit dieser Sachen öffentlich soweit gekommen und bewähret worden, daß sie durch Vereinigung ihrer Stimmen (wenngleich nicht aller) einen Vorschlag vor den Thron bringen könnte“ (WiA, S. 14).
Die vordergründige Lobhymne, die Kant auf Friedrich II. anstimmt, gipfelt in der Feststellung, das dieser „selbst in Ansehnung seiner Gesetzgebung“ (WiA, S. 16) erlaubt habe,
„von ihrer eigenen Vernunft öffentlich Gebrauch zu machen und ihre Gedanken über eine bessere Abfassung derselben, sogar mit einer freimütigen Kritik der schon gegebenen, der Welt öffentlich vorzulegen“ (WiA, S. 16).
Die Verehrung Kants für den aufgeklärten Absolutisten Friedrich beruht nicht nur darauf, daß dieser „zuerst das menschliche Geschlecht der Unmündigkeit, wenigstens von Seiten der Regierung, entschlug“ (WiA, S. 16), sondern gerade auch darauf, daß Friedrich entgegen der monarchischen Staatsform, die er repräsentierte, Elemente eines republikanischen Staates zugelassen habe. Die res publica, die öffentliche Sache wird in Kants historischer Situation allerdings nicht durch ein Parlament, sondern durch ein Publikum verhandelt. Anhand des Beispiels der Gemeinschaft geistlicher Gelehrter zeigt uns Kant, daß es um eine „Vereinigung“ von „Stimmen (wenngleich nicht aller)“ (WiA, S. 14) geht. Gleichwohl mutet Kant seinem Herrn zu, daß „sein gesetzgebendes Ansehen“ darauf beruhen soll, „daß er den gesamten Volkswillen in dem seinigen vereinigt.“ (WiA, S. 15) Der auch für den Monarchen gültige
„Probierstein alles dessen, was über ein Volk als Gesetz beschlossen werden kann, liegt in der Frage: ob ein Volk sich selbst wohl ein solches Gesetz auferlegen könnte?“ (WiA, S. 14)
Der Unterschied zwischen einer repräsentativen und absoluten „Vereinigung“ des Volkswillen macht zum Teil das Befremdliche des „nicht erwartete(n) Gang(s) menschlicher Dinge“ (WiA, S. 17) aus, das Kant am Ende seines Aufsatzes feststellt. Der aufgeklärte Absolutist Friedrich, der
„ein wohldiszipliniertes zahlreiches Heer zum Bürgen der öffentlichen Ruhe zur Hand hat – kann das sagen, was ein Freistaat nicht wagen darf: räsoniert, soviel ihr wollt und worüber ihr wollt; nur gehorcht!“[5] (WiA, S. 17)
Kant sagt uns in seinem Aufsatz nicht explizit, was er unter einem Freistaat versteht. Man könnte meinen, daß er darunter eine anarchistische Staatsform versteht, in der der Gehorsam gegenüber einer Staatsgewalt insofern nicht Pflicht sein kann, als daß es diese nicht gibt. Es könnte sein, daß mit dem Begriff des Freistaats einen Rückbezug auf das Schreckgespenst der Revolution vollzieht, der er ja die Reform gegenübergestellt hat. In der Revolution befreit sich nach Kant der große gedankenlose Haufen vom Despotismus, schreitet aber nicht zur „wahre(n) Reform“ einer aufgeklärten „Denkungsart“ (WiA, S. 10f) fort. Der „paradox(e)“ und „befremdliche()“ „Gang menschlicher Dinge“ (WiA, S. 17), über den Kant räsoniert, scheint darin zu bestehen, daß es einen fruchtbaren öffentlichen Gebrauch der Vernunft nur geben kann, wenn er von „Satzungen und Formeln“ (WiA, S. 10), einem geregelten Gemeinwesen umklammert ist. Fehlt diese Umklammerung, gibt es weder einen öffentlichen noch einen privaten Gebrauch der Vernunft; die Unterscheidung fällt in sich zusammen. Im Anarchismus herrscht eine Anarchie der verschiedenen, individuellen, subjektiven „Vernünfte“. Diese Anarchie der Vernunft ist, der „Nachkommenschaft“ gegenüber genauso wenig zu verantworten wie ein „Zeitalter“, das sich verbündet und darauf verschwört,
„das folgende in einen Zustand zu setzen, darin es ihm (dem Menschengeschlechte, E.P.) unmöglich werden muß, seine … Erkenntnisse zu erweitern, von Irrtümern zu reinigen und überhaupt in der Aufklärung weiterzuschreiten.“ (WiA, S. 13f)
In einem bemerkenswerten Satz am Ende seines Aufsatzes reflektiert Kant auf das empfindliche Gleichgewicht zwischen öffentlichem und privaten Gebrauch der Vernunft:
„Ein größerer Grad bürgerlicher Freiheit scheint der Freiheit des Geistes des Volks vorteilhaft und setzt ihr doch unübersteigliche Schranken; ein Grad weniger von jener verschafft hingegen diesem Raum sich nach allem seinen Vermögen auszubreiten.“ (WiA, S. 17)
Die Undeutlichkeit dieses Satzes macht ihn zum Rätselspruch. Wenn Kant mit der bürgerlichen Freiheit die Freiheit zum öffentlichen Gebrauch der Vernunft meint, so ist schwer nachvollziehbar, was wir unter einem größeren Grad derselben zu verstehen haben. Es könnte aber sein, daß dieser Grad den Unterschied ausmacht zwischen einem aufgeklärten Absolutismus und einem republikanischen Staat. Kant hatte den Freistaat nicht näher bestimmt. Es hatte den Anschein, daß der „große Haufen“ Kants Meinung nach noch nicht reif für einen republikanischen Staat sei. So könnte der Satz eine verklausulierte Reflexion auf die historische Situation sein. Genauso gut könnte dieser Satz aber auch eine ahistorische Relation festhalten. Ein Grad weniger der bürgerlichen Freiheit ist nicht legitimierbar und kann daher als ein Mißstand gelten, an dem sich der Freiheitsdrang des Volks entzündet. Kant sagt uns nicht, was die „unübersteigliche(n) Schranken“ sind, die ein größerer Grad der bürgerlichen Freiheit der Freiheit des Geistes des Volks setzt. (Er könnte damit auch einen anarchistischen Freistaat meinen.) Aber was immer diese Schranken sein mögen, ein Grad weniger bürgerlicher Freiheit verschafft dem Geist des Volks „Raum, sich nach allem seinen Vermögen auszubreiten.“ (WiA, S. 17)
Nicht nur dieser rätselhafte Satz, nicht nur die undeutliche Gegenüberstellung von Absolutismus und Freistaat, sondern auch mit dem letzten Satz seines Aufsatzes versetzt Kant sowohl die Hymne auf Friedrich als auch die Unterscheidung in einen öffentlichen und privaten Gebrauch der Vernunft in eine Schwebe. Die naturgegebene Berufung des Menschen „zum freien Denken“ wirke
„allmählich zurück auf die Sinnesart des Volks (wodurch dieses der Freiheit zu handeln nach und nach fähiger wird) und endlich auch sogar auf die Grundsätze der Regierung, die es ihr selbst zuträglich findet, den Menschen, der nun mehr als eine Maschine ist, seiner Würde gemäß zu behandeln.“ (WiA, S. 17)
Die Trennung in einen privaten und öffentlichen Gebrauch der Vernunft ist nicht ohne weiteres so strikt und absolut, wie sie erscheint. Sie erscheint so nur in einer systematischen, nicht zeitlichen Beschreibung. Kant selbst betont, daß er nicht in einem „aufgeklärten Zeitalter“ (WiA, S. 15) lebt, „aber wohl in einem Zeitalter der Aufklärung.“ (WiA, S. 15) Kant hält auf subtile Weise die Zeitlichkeit und den Prozeßcharakter der Aufklärung fest. Mit einem gut konstruierten Beispiel aus dem religiösen Bereich zeigt Kant die Grenzen des „gehorcht!” auf, die sowohl die Grenzen des Absolutismus als auch die eines Freistaats sind. Der kirchliche „Geschäftsträger“ (WiA, S. 12) soll seiner Kirche nur solange getreu dienen, wie er in deren und damit seiner eigenen Religion nichts „Widersprechendes“ (WiA, S. 13) antrifft. Andernfalls „würde er sein Amt mit Gewissen nicht verwalten können; er müßte es niederlegen.“ (WiA, S. 13) Das „Gehorcht!“, das ein Friedrich genau wie jede Staatsgewalt in gewisser Hinsicht sagen darf, findet seine Grenze in einer Gewissensentscheidung. Es ist strategisch geschickt, daß Kant den „Hauptpunkt der Aufklärung … in Religionssachen gesetzt“ (WiA, S. 16) hat. Denn die Freiheit des Gewissens gilt notwendig auch für jeden Offizier, für den als „Teil der Maschine“ (WiA, S. 11) gilt: „er muß gehorchen.“ (WiA, S. 12) Allerdings nur wenn er es mit seinem Gewissen vereinbaren kann, als „Bürge() der öffentlichen Ruhe“ (WiA, S. 17) zu dienen, und das heißt auch zu töten. Kant scheint uns genau das im letzten Satz seines Aufsatzes sagen zu wollen. Die Regierung müsse „den Menschen, der nun mehr als Maschine ist, seiner Würde gemäß“ (WiA, S. 17) behandeln. Diese Würde läßt sich innerhalb des Aufsatzes „Was ist Aufklärung?“ nur als Freiheit des Gewissens und Freiheit zum öffentlichen Gebrauch der Vernunft bestimmen.
- Foucault versus Kant
Nicht erst Foucault, der von einem „Feld der Umkehrbarkeit, der möglichen Umkehrung“ (Wik, S. 40) spricht, von einer offenen Periode, sondern schon Kant spricht von Aufklärung als einem unabschließbaren Zeitalter, in dem „das Feld geöffnet wird, sich dahin frei zu bearbeiten“, sich des „eigenen Verstandes ohne Leitung eines anderen sicher und gut zu bedienen“ (WiA, S. 15). Die Unabschließbarkeit der Aufklärung ist bei Kant in der „ursprüngliche(n) Bestimmung“ des Menschen begründet, die in einem „Fortschreiten“ (WiA, S. 14) bestehe. Um „Erkenntnisse zu erweitern, von Irrtümern zu reinigen“ müsse die „Aufklärung weiterschreiten“ (WiA, S. 13f).
Es hat sich gezeigt, daß Foucault seine These, daß Kant sein kritisches Projekt der Aufklärung als Vorübung aufbürde, nicht auf den Aufsatz „Was ist Aufklärung?“ stützen kann. Die Merkwürdigkeit des Aufsatzes besteht gerade darin, daß Kant völlig unsystematisch sowohl von einem „eigenen Verstand“ spricht, wobei er das eigene betont, als auch von einer eigenen Vernunft. Er betont darüber hinaus den Gebrauch dieser Vermögen ohne Leitung eines anderen. Ein Buch, das für Kant ein Medium des öffentlichen Gebrauchs der Vernunft ist, lese ich falsch, wenn es „für mich Verstand hat“ (WiA, S. 9). Ein Buch ist immer nur ein Vortrag und Vorschlag von Ideen, die selbst kritisch zu denken und prüfen sind. Das betrifft selbst die drei großen Kritiken Kants, die er stets überarbeitet erscheinen ließ. Öffentlichkeit ist schon bei Kant der „Ort“, an dem „die Einsicht in die Beschaffenheit“ der Sachen vorankommen und sich bewähren soll, damit sie in „einen Vorschlag“ (WiA, S. 14) münden kann. So denkt sich Kant eine Reform.
Foucault nimmt die Rolle des Aufklärers nur um den Preis ein, Kant als Aufklärer zu verbergen. Es ist zwar der eigene Verstand, den Kant beschwört, der Foucault eine eigene Geschichte schreiben läßt. Doch diese Geschichte ist eine Fortsetzung der Geschichte Kants. Foucault erzählt sie genau dort weiter, wo Kant aufhört. Kant thematisiert ja gerade auch die Öffnung eines Feldes für Umkehrungen: aufgeklärter Absolutismus, Freistaat, republikanischer Staat. Bei Kant scheint ja gerade der Weg zur Republik nur über einen Absolutisten laufen zu können, der die destruktive Gewalt des großen Haufens unterbindet, sich zum aufgeklärten Absolutisten läutert und es als sein Interesse erkennt, mehr bürgerliche Freiheit zu gewähren, aber immer einen Grad der Freiheit zu wenig bereitstellt, an dem sich dann erst der Freiheitswunsch des Volkes in einer nicht destruktiven Weise entzünden kann.
Genau wie Kant geht es Foucault nicht um einen Anarchismus, dessen Motto lauten würde: „nicht regiert werden“. Foucault geht es vielmehr genau wie Kant darum, nicht dermaßen bzw. nicht unlegitimiert regiert zu werden. Es geht um die Würde des Menschen. Foucaults projektierte Analyse des Nexus von Macht-Wissen in seinem Verhältnis zur Wahrheit und dem Subjekt knüpft an der seltsam offenen Dialektik an, die Kant in seinem Rätselspruch zu bedenken gibt. Diese Dialektik beschreibt zwar ein Fortschreiten der Menschheit, das aber schon bei Kant nicht zwingend einen Fortschritt bedeuten muß.
Unter der Voraussetzung, daß die von Foucault erzählte Verfallsgeschichte der Vernunft wahr ist, bewegt er sich in einer zentralen Aporie. Er hat genau wie Kant keine Gewähr dafür, daß seine Analyse des Nexus von Macht-Wissen nicht auch an einer Steigerung der Techniken der Regierung teilnimmt.
TI TITLE: Foucault on Kant: Deconstructing the Enlightenment?
AU AUTHOR(S): Becker-Cantarino,-Barbara
SO SOURCE (BIBLIOGRAPHIC CITATION): 27-33 IN Friedrichsmeyer,-Sara (ed.); Becker-Cantarino,-Barbara (ed.). The Enlightenment and Its Legacy: Studies in German Literature in Honor of Helga Slessarev. Bonn : Bouvier, 1991. 227 pp.
SE SERIES: Modern-German-Studies, Birmingham B4 7ET, England (MGStu) ; 17
IS International Standard Numbers: ISSN 0268-5930
LA LANGUAGE: English
PT PUBLICATION TYPE: book-article
PY PUBLICATION YEAR: 1991
DE DESCRIPTORS: German-literature; 1700-1799; Enlightenment-; Kant,-Immanuel; “Was-ist-Aufklarung?”; prose-; philosophical-prose; treatment of Enlightenment-; application of theories of Foucault,-Michel
[1] Zitiert wird nach der deutschen Übersetzung, Michel Foucault, „Was ist Kritik?“, Berlin 1992, (= WiK).
[2] Zitiert wird nach der Reclam-Ausgabe, „Was ist Aufklärung?“, Thesen und Definitionen, Stuttgart 1992, (= WiA).
[3] Zitiert wird nach Immanuel Kant, Kritik der reinen Vernunft, hg. v. Gottfried Martin, Ingeborg Heidemann, Joachim Kopper und Gerhard Lehmann, Stuttgart 1991, (= KdrV).
[4] Foucault hat diesen Ruf vernommen, er schreibt eine eigene Geschichte.
[5] Beim ersten Zitat der Stimme Friedrich hatte Kant andere Akzente gesetzt: „räsoniert, soviel ihr wollt und worüber ihr wollt; aber gehorcht!“ (WiA, S. 14) Das „nur“ klingt fast wie ein Bitte.