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Das Erhabene des World Wide Web

Unter dem Begriff des Erhabenen beschäftigt sich die Philosophie mit der Frage, wie sich die Kräfte der Natur und des Menschen zueinander verhalten. Als erhaben gilt sowohl die im mathematischen Sinne unendliche Natur, etwa der anmutige Sternenhimmel, vor dem wir staunend stehen, aber auch die dynamische, bewegte Natur. Ihre Katastrophen müssen wir allerdings aus sicherer Distanz beobachten. Sonst können wir das durch sie ausgelöste Gefühl des Erhabenen nicht genießen. Doch durch solchen Widerstand gegen die Natur ergibt sich die folgenreiche Phantasie, der Mensch sei über die Natur erhaben. Schließlich – so lautet die Argumentation beim Idealisten Kant – gehen unsere Ideen, etwa die der moralischen Erhabenheit oder auch die der Unendlichkeit, ja noch weit über das hinaus, was uns die Sinne an Eindrücken bieten.
Offen ist aber die Frage, ob auch unsere Technologien erhaben sind, also etwa so wie unsere Vernunftideen? Oder sind sie bloß so erhaben wie die bisweilen katastrophale Natur, weil sie letztlich genau wie diese unkontrollierbar sind? Was nun das World Wide Web anbelangt, so versucht schon das animierte Icon des bekannten Netscape Navigator Antworten auf diese Fragen zu geben. Es zeigt den unüberschaubaren, unendlichen Horizont des Himmels durchzogen von mächtigen, dynamischen Kometen. Trefflicher kann man kaum unterstellen, dass das WWW zugleich sowohl das Register des Mathematisch-Erhabenen als auch das des Dynamisch-Erhabenen zieht. In der Tat ist es so gut wie mathematisch-erhaben, denn seine Seiten sind mehr, als je ein Mensch sinnlich erfassen kann und seine Topographie ist beinahe so unanschaulich wie die des Weltalls. Und tatsächlich betrifft es uns in gewisser Weise wie eine Katastrophe der dynamisch-erhabenen Natur. Da es keinen Boden, keinen Vorder-, Mittel- oder Hintergrund mehr gibt, befinden wir uns surfend nicht länger in einer Position sicherer Distanz. So entsteht eine Sogwirkung, die die heimliche Triebfeder des Surfens ist. Hineingesogen ins WWW wird jeder zu seinem subjektiven Mittelpunkt. Eine Welt, die anders als die physikalische auf Knopfdruck da ist oder auch verschwindet.

Zuerst erschienen 1996  in Der Tagesspiegel

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